Sonntags am Bahnhof Zoo Schlange stehen, mit der ergatterten Zeitung in die Telefonzelle stürmen und die Anzeigen abtelefonieren – so sah Wohnungssuche in den 1990ern aus. Anzeigen zu finden und Menschen zu kontaktieren ist heute technisch leichter. Die Mieten allerdings sind höher, die Wohnungen begehrter. Wie kam es dazu? Entscheidende Ereignisse zeigt dieser Zeitstrahl. Von Julian von Bülow.
1989/90

Nach 28 Jahren wieder eine Stadt!
Zu Beginn der 1990er gibt es in West-Berlin 236.000 städtische Wohnungen, im Ostteil sind es 246.000. Zusammen machen sie 28 Prozent der rund 1,7 Millionen Berliner Wohnungen aus. Einige davon sind allerdings marode und haben nicht mal ein eigenes Bad.
Da die Stadt Eigentümerin ist, kann sie direkten Einfluss auf Miethöhe und Wohnbedingungen nehmen.
31.08.1990

DDR und BRD unterzeichnen Einigungsvertrag
Berlin wird Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Ministerien ziehen in den kommenden Jahren von Bonn an die Spree, Unternehmen folgen. Die wiedervereinigte Stadt gewinnt an Bedeutung.
Mit dem Einigungsvertrag werden auch die Schulden der ehemaligen staatlichen DDR-Wohnungsunternehmen neu geregelt, was einige Jahre später auch Konsequenzen für den Berliner Wohnungsmarkt hat.
1992

Boomtown Berlin?
Das Statistische Landesamt Berlin erstellt eine Bevölkerungsprognose. Es rechnet im Extremfall mit 5,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 2010, im mittleren Szenario mit 4,4 Millionen. Dementsprechend beginnt der Senat damit, den Wohnungsbau weiter anzukurbeln.
So viele Menschen leben in Berlin:
1992 – 3,45 Millionen
2002 – 3,39 Millionen
2012 – 3,38 Millionen
2021 – 3,68 Millionen
10.07.1994
Privatisierung Berliner Wohnungen I
Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sollen 15 Prozent ihrer Wohnungen verkaufen, beschließt die Berliner Koalition aus CDU und SPD. Ein Anreiz sind unter anderem die Bundeshilfen für verschuldete Ost-Wohnungsunternehmen. Wohnungen sollen dabei vorranging an Mieterinnen und Mieter verkauft werden.
Im Jahr 2000 bilanziert die Verwaltung:
46.400 Wohnungen wurden verkauft, allerdings gingen nur 18,5 Prozent davon an Mieterinnen und Mieter oder Genossenschaften. Der Großteil ging an profitorientierte Käuferinnen und Käufer.
1996
Berlin schrumpft
Erstmals seit dem Mauerfall sinkt die Bevölkerungszahl Berlins. Bis 2001 schrumpft die Hauptstadt.
1997
Wohnungsbau auf dem Höhepunkt
Die Baueuphorie vom Anfang des Jahrzehnts trägt Früchte: 32.965 Berliner Wohnungen werden in diesem Jahr fertiggestellt.
1998

Privatisierung Berliner Wohnungen II
Der Berliner Senat verkauft 75 Prozent der Wohnungsbaugesellschaft GEHAG an zwei Hamburger Unternehmen – den Rest 2001. Die GEHAG ist Eigentümerin von rund 29.000 Wohnungen in Berlin.
„Wir machen es, weil dieser Haushalt dadurch finanziert werden muss und wir machen’s vor allen Dingen, um Investoren in die Stadt zu holen“, erklärt der damalige SPD-Bürgermeister-Kandidat Walter Momper dazu in der rbb-Abendschau.
2001
Berliner Bankenskandal und leere Kassen
Die Berliner Bankengesellschaft braucht wegen windigen Immobiliengeschäften Milliarden vom Land Berlin. Für das Jahr 2002 rechnet die Berliner Finanzsenatorin mit einem Haushaltsloch von 9,2 Millarden Mark bzw. 4,7 Millarden Euro.
Ein weiterer Grund: Der vom Senat angestoßene Verkauf von Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaften wird weniger Geld einbringen als geplant. FDP-Fraktionsvorsitzender Günter Rexrodt schlägt vor: „Es kann nur auf eines ankommen: Dass wir über verstärkte Privatsierung – Bankgesellschaft, Wohnungsbaugesellschaft oder was auch immer – versuchen, so viel Geld schnell in die Kasse zu bekommen, dass wir nicht ausweichen müssen in mehr Schulden.“
2004

Senat verkauft GSW-Wohnungsgesellschaft
Berlins größter Verkauf städtischer Wohnungen findet statt: Der rot-rote Senat verkauft 65.080 Stück an zwei Fondsgesellschaften. Damals kostete eine Wohnung rund 32.300 Euro. Heute entspricht das 42.200 Euro.
Im Jahr 2000 mahnte Ludwig Burkardt vom Verband der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen in der rbb-Abendschau noch: „Die Stadt liegt mit jetzt rund 300.000 Wohnungen bereits sehr nah an dem, was sie überhaupt braucht, um auf dem Markt Einfluss nehmen zu können und um die sozial schwächeren Schichten der Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Wenn die GSW noch verkauft wird, wird es eng.“
Die Mieten in den verkauften Wohnungen wurden erhöht und Modernisierungen durchgeführt, kritisiert der Berliner Mieterverein nach der Übernahme.
Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verteidigt den Verkauf: „Aus der damaligen Zeit war es zu rechtfertigen“, sagte er der BZ 2019. „Berlin hatte einen riesigen Wohnungsleerstand (rund 150.000) und die Bevölkerungsprognosen gingen nicht von einem Zuwachs aus.“
2005
Kommunaler Wohnungsbestand fast halbiert
Waren es 1990 noch 482.000 städtische Wohnungen, sind es im Jahr 2005 etwa 209.000 weniger. Das hat der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm berechnet.
Rund 120.000 Wohnungen seien nach dem Bankenskandal 2001 verkauft worden. Von allen privatisierten Wohnungen seit 1990 seien rund 57 Prozent gewinngetriebene Gesellschaften erworben worden.
2006
Wohnungsbau auf dem Tiefpunkt
Nur 3.126 neue Wohnungen werden in diesem Jahr fertiggestellt. Zum Vergleich: Im Jahr 1997 baute Berlin mehr als zehnmal so viele Wohnungen – Höchststand seit der Wende.
2007
Berlin wächst wieder aus sich heraus
In diesem Jahr gibt es wieder mehr Geburten als Todesfälle in Berlin. Damit wächst die Stadt seit der Wende nicht mehr allein durch Zuzüge. Mit den Familien wächst auch der Platzbedarf.
2007/08

Finanzkrise!
Die Zentralbanken vieler Länder senken die Leitzinsen. Konsequenz: Staatsanleihen werfen weniger Zinsen ab. Wer auf langfristig sichere Anlagen angewiesen ist, wie etwa Pensionsfonds, sucht daraufhin neue stabile Geldanlagen. Sie finden: Mietwohnungen in begehrten Städten, denn die versprechen konstante bis wachsende Rendite.
Zwischen 2007 und 2020 kaufen Investorinnen und Investoren Wohnungen in Berlin und Umland im Umfang von 42 Milliarden Euro – mehr als in Paris und London zusammen. Das hat das Unternehmen Real Capital Analytics berechnet.
01.05.2014

In Wohnungen bitte nur wohnen
Ab heute gilt das mit rot-schwarzer Mehrheit im Abgeordnetenhaus beschlossene „Zweckentfremdungsverbot“. Damit sollen Leerstand, Abriss und die Umwandlung in Gewerberaum oder Ferienwohnungen verhindert werden. Wer Touristinnen und Touristen in der eigenen Wohnung unterbringen will, muss eine Genehmigung beim Bezirksamt beantragen.
Erfolg des Gesetzes: Zweifelhaft. Im Juni 2022 wurden in Berlin rund 10.000 Wohnungen und Häuser sowie etwa 6.000 Zimmer via AirBnB angeboten, errechnete insideairbnb.com. 70 Prozent der Inserate hatten keine Genehmigung.
05.03.2015

Einführung der „Mietpreisbremse“
Der Bundestag beschließt ein Gesetz, das den Mietenanstieg in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt begrenzen soll. Bei Einzug darf die Miete maximal zehn Prozent über dem liegen, was für ähnliche Wohnungen in der Gegend verlangt wird. In Berlin gilt das Gesetz ab Juni 2015.
31.12.2015

„Ein beachtliches Mietpotenzial“
Das private Wohnungsunternehmen Deutsche Wohnen veröffentlicht seinen jährlichen Unternehmensbericht. Darin steht:
„Mit dem Eigentumsübergang von drei größeren Akquisitionen haben wir in einem wettbewerbsintensiven Marktumfeld unser Portfolio in Berlin ausgeweitet. Die rund 7.500 Wohneinheiten ergänzen unser bestehendes Portfolio optimal. Dabei handelt es sich zumeist um Mietwohnungen im – gemäß Berliner Mietspiegel – mittleren Preissegment, die ein beachtliches Mietpotenzial mit sich bringen.“ Im Klartext: Dort kann das Unternehmen die Mieten weiter erhöhen.
23.02.2020

Einführung des „Mietendeckels“
Die rot-rot-grüne Mehrheit im Berliner Abgeordnetenhaus beschließt das „Gesetz zur Neuregelung gesetzlicher Vorschriften zur Mietenbegrenzung“. Zum Stichtag 01.06.2019 werden die Mieten eingefroren und zu hohe Mieten verboten. Ab November 2020 dürfen Mieterinnen und Mieter ihre überhöhte Miete absenken.
2020
Berlin schrumpft erstmals seit 2004 wieder
Mehr Menschen ziehen aus Berlin raus als rein, besonders aus dem Ausland bliebt der Zuzug – vermutlich pandemiebedingt – aus, fasst das Amt für Statistik die Lage zusammen.
15.04.2021

Bundesverfassungsgericht kippt „Mietendeckel“
Deutschlands höchstes Gericht urteilt: Berlin hat nicht die Kompetenz, einen „Mietendeckel“ zu beschließen. FDP und CDU/CSU hatten das Gerichtsverfahren angestoßen.
17.09.2021

Bundesratsinitiative für Mietendeckel
Berlin stellt einen Antrag im Bundesrat vor, damit Bundesländer selbstständig Mietendeckel einführen dürfen. Der Antrag wird an die zuständigen Ausschüsse verwiesen. Bislang wurde der Vorschlag nicht weiter behandelt.
26.09.2021

Berlin stimmt für Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen
Parallel zur Abgeordnetenhauswahl stimmen 56,7 Prozent der Berlinerinnen und Berliner dafür, dass der Senat ein Gesetz beschließen soll, um die Wohnungen von Firmen und Personen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Gemeineigentum zu überführen. Im Juli 2022 nahm dazu eine Kommission ihre Arbeit auf.
21.12.2021

R2G will 200.000 Wohnungen bis 2030
Pro Jahr plant die rot-rot-grüne Koalition durchschnittlich 20.000 neue Wohnungen zu bauen. 2021 kam man auf knapp 16.000.
Die Ursachen für den derzeitigen Berliner Wohnungsmarkt sind einerseits in den politischen Entscheidungen zu finden: Kontrolle abgeben, indem man städtische Wohnungen verkauft, die hohe Verschuldung Berlins und der mangelnde Neubau. Andererseits liegt es auch daran, dass so viele Menschen nach Berlin ziehen, dort aber auf ein geringes Wohnungsangebot stoßen und solche, die sich für den Hauptstadturlaub ein Zimmer über AirBnB buchen. Und an Unternehmen, die mit steigenden Mieten ihr Geld verdienen wollen.